Leon Joskowitz: Das Gespräch mit Emilia Neumann findet in ihrem Atelier im Frankfurter Ostend statt. Vor dem Eingang stehen große
Betonskulpturen. Manche sind abgedeckt, andere liegen offen herum. Das Auge sucht nach Gestalt und Formen, aber
die Werke geben sich unbeteiligt. Im Atelier verbinden offeneTreppen mehrere Räume zu einem Ensemble aus Produktions-
und Ausstellungsort. Unten eine kleine Küche wie eine Kombüse auf einem Schiff, oben ein großer Schreibtisch, jede
Menge Bücher und eine Couch. Dazwischen stehen, liegen und hängen bunt eingefärbte Gips- und Betonskulpturen. Im
zentralen Werkraum steht ein sehr großes Gefäß, das Emilia aus allerlei Fundsachen zusammengesetzt hat. Es wird von
einem stabilen Holzgestell gehalten und in Kürze für eine neue Ausstellung mit 11 Tonnen Beton ausgegossen. Während ich
mich umschaue, verschwindet Emilia Neumann in ihrer Kombüse. Ihre Werke irritieren den Blick. Sie glänzen, sind groß,
schwer und bunt, und bleiben doch seltsam zurückgenommen. Man will mit der Hand die Oberflächen berühren und herausfinden,
wie sich diese unbekannten Dinge anfühlen. Emilia kommt mit einer großen Kanne Kaffee zurück. Wir setzen
uns und Emilia Neumann beginnt über Kunst, ihre Arbeit mit den Materialien Beton und Gips, über das Leben als Künstlerin
zu erzählen.
Emilia Neumann: Ich baue dem Gips oder dem Beton eine Schale und gebe dem Material eine Form. Im Vorfeld habe ich eine farbliche Vorstellung von dem Objekt, aber der Zufall ist ein nicht reduzierbarer Teil meiner Produktion. Das Material kommt als Pulver und ich verändere die Aggregatzustände: Erst Pulver, dann heiß, dampfend und flüssig, später matschig und schließlich hart. Im Laufe des Prozesses wird es zu etwas ganz anderem, als es zu Beginn war. Das Material selbst ist bloß, was es ist. Am Anfang und am Ende ist es unbeweglich und anorganisch. Erst durch die Bearbeitung und die Kontextualisierung tritt es aus sich selbst heraus, es changiert und verwandelt seine Eigenschaften; darin ist es lebendig und bleibt doch immer Fragment. Gleichwohl wächst gedanklich noch etwas weiter, selbst wenn der Beton getrocknet und das Objekt fertig ist.
Jedes meiner Objekte hat eine äußere und eine innere Form. Die Innenseite ist unbearbeitet, grob und rau, aber sie bleibt immer sichtbar. Manchmal sind es Bruchkanten und Einschlüsse in den Werken, häufig auch das fertige Werk selbst, das auf das Immer-Werdende verweist. Kunst schaffen ist für mich, wie sich in einer stehenden Zeit zu bewegen. Meine Arbeit steht zwischen mir und dem Allgemeinen. Und verbindet mich zugleich mit dem Da-draußen. Es hat etwas mit mir zu tun, aber es steht als das, was es ist und ich weiß nicht mehr dazu. Ich arbeite schon lange mit Gips und Beton. Das Haptische der Materialien verbindet mich mit Erfahrungen aus meiner Kindheit. Das Spielen im Sand und im Matsch, das Reisen an andere Orte. Ich glaube, dass jeder ein
Talent vererbt bekommt und die Sensibilisierung dafür in den frühen Jahren gesetzt wird. Ich war den ganzen
Sommer am Strand, habe gegraben, gebaut und viele Erkenntnisse mit den Händen gesammelt. Bis heute kann
ich meine Praxis so beschreiben: mit den Händen denken. Wir haben zahlreiche Ausgrabungsstätten besucht und
die Amphoren, die Säulen, die Ruinen, die Fossilien und diese architektonischen Elemente haben mich ebenso
begeistert, wie die Gebirgsketten und geformten Naturlandschaften.
Leon Joskowitz: Emilia kommt gerade von einer Italienreise zurück. Sie hat Carrara besucht, um dort den Marmor als Masse wahrzunehmen.
Sie wollte sehen, wie er abgebaut, geschnitten und transportiert wird, sehen, wie das Licht sich zu den unterschiedlichen
Tageszeiten in den Felsen bricht. In wenigen Nebensätzen skizziert sie, wie sich der Einsatz von Stuck, Natur- und Kunststein im Laufe der Zeit verändert hat. Das Denken mit den Händen hat Spuren hinterlassen; sie kennt ihre Materie.
Emilia Neumann: Künstlerin bin ich durch das Machen geworden. Ich habe einen unfassbaren Willen zur Selbstbestimmung und Selbstwirksamkeit. Ich bestimme meinen Tag, was ich tue oder nicht tue. Erst danach kommen konkrete Fragen nach Beruf, Karriere oder Erfolg. Anerkennung und Props sind aufbauend, aber die Tätigkeit selbst ist davon nicht motiviert. Natürlich muss sich in unserem System jede:r einen Unterhalt sichern, davon kann ich nicht frei sein, aber Verwertungslogik und Geld stehen im Hintergrund. Schau Dir das an: mein Atelier ist voller Arbeiten und ich fertige die nächste 11 Tonnen schwere Skulptur an. Das ist doch vollkommen bekloppt.
Leon Joskowitz: Emilia Neumann lacht. Sie sitzt interessiert und vergnügt auf ihrem Stuhl. In ihrem Atelier. Alles hier hat seinen Platz und in der Mitte steht und arbeitet Emilia Neumann. Es ist ihr Reich.
Emilia Neumann: Irgendwann baue ich eine Autobahnbrücke. An der man viel zu schnell vorbeifährt, um ein Foto machen zu können. Die Autobahn muss drunter durchgehen. Die Brücke verbindet etwas. Natürlich ist sie aus Beton und eingefärbt, aber mich fasziniert der Gedanke, dass von der ganzen Schwere, dem ganzen Material und der Funktion nur dieser Eindruck, nur der Moment bleibt, dass man die Brücke nicht fotografieren kann, weil man immer schon vorbei ist, wenn man das Foto machen will. In gewisser Weise sind alle meine Skulpturen solche Momentaufnahmen. Sie erstarren in einem zufälligen Moment als fertiges Fragment. Alles was davor war und was danach sein wird, muss nun durch diesen Moment hindurch. Für jede Ausstellung entwickle ich neue Objekte. Ich will den Räumen etwas hinzufügen und bin gespannt, wo „Koi_Pond“ schließlich stattfinden wird. Über die Zeit habe ich gelernt, den ersten Impulsen zu folgen, und ihre spontane Kraft in die Arbeit zu bringen. Wenn man den Impulsen nicht nachgeht, verliert die Arbeit an Kraft und es wird beliebig.“
Leon Joskowitz: Als wir nach dem Gespräch das Atelier verlassen, blickt Emilia skeptisch auf das Gestell um ihre neue Arbeit. Es ist die schwerste Skulptur, die sie je erschaffen hat. Sie hat leichte Sorge, dass die Skulptur ihre Balance verliert. Aber davon wird sie sich nicht abhalten lassen. Sie wird es herausfinden.
Text: Leon Joskowitz
Der Katalog zur Ausstellung kann via KVTV shop erworben werden.