Ich vermute, dass kein Hochflor-Teppich hinter Euren gemütlichen Sitzecken hängt. Es sei denn Eure Eltern kommen aus der ehemaligen UdSSR. Wir hatten so einen Wandschatz. Es vervollständigte das Stillleben jedes Wohn- und Schlafzimmers genauso, wie der Wodka den Seljedka (übers. Hering). Unsere Großeltern haben bis heute zwei von den Monstern an den Wänden hängen. Je einen vor jedem Bett. Um die Herkunft dieser Teppiche genauer zu beleuchten, befrage ich zunächst den besten Experten - meinen Großvater - dazu.

Ich mit meinem Opa

Die Teppiche wurden bei unserer Auswanderung, Ende der 90er, mit dem Container nach Deutschland verschifft und sind in den ständig wechselnden vier Wänden zu Zeitzeugen unserer Familiengeschichte geworden. Als ob sie alles gesehen und gehört hätten, und mit Sicherheit auch an sich genommen haben. Momentan hängen an ihnen die amtlichen Briefe und andere Notizzettel, ähnlich einer Pinnwand, wahlweise dienen sie auch als Fotokulisse, aber vor allem erzeugen sie eine wohltuende Wärme und Gemütlichkeit.

Der Hype um den Teppich und der Werdegang zum Meme-Status der letzten Jahre hat mich aber doch gewundert. Für mich sind die Fotos aus der Kindheit mit dem Wollmonster eine ganz normale Szenerie einer sehr gewöhnlichen Familien-Gaudi. Dass der Teppichhintergrund öfters als Intro-Bild auf Datingportalen genutzt wurde, kam auch später. Selbstdarstellung nach dem Motto - je mehr Teppich, desto wohlhabender der potentielle Heiratskandidat oder begehrenswerter die Braut, das waren die wilden 90er. In Wirklichkeit machte sich jeder darüber lustig. Obgleich im Elternhaus genauso ein Relikt hängte und man insgeheim gehofft hat nicht die eigene Mutter oder den eigenen Vater im Netz zu entdecken.

Aber die Tradition der Wandteppiche rührt selbstverständlich nicht aus der unheimlichen ISDN Modem-Verbindung-Zeit und ist lange vor der Sowjet-Ära entstanden. Die Teppichkunst wurde bereits vor Hunderten von Jahren im Altai-Gebirge des Zentral-Ostasiens entdeckt. Vermutlich sind sie so alt wie die Höhlenmalereien. Die Teppiche waren vor allem zur Wärmedämmung bei den Nomadenvölkern im asiatischen Großraum hoch im Kurs und wurden großzügig in den Jurten (traditionelle Zelte) verbaut, außerdem waren sie für die ständigen Umzüge auch sehr praktisch. In Europa wurde die Teppichkunst dann erst viel später, nämlich im 11. Jahrhundert entdeckt. Königliche Dynastien herrschten damals in ihrem ausgeprägt feudalistischen und kirchlichem Führungsstil über die Bauern des Abendlandes. Die Teppiche blieben der adligen Schicht vorenthalten und waren zum Teil so wertvoll wie das Gold.

Nach Russland kam die Tradition nochmals ein paar hundert Jahre später. Die Qualität ließ jedoch zu Wünschen übrig und ähnelte aufgrund der minderwertigen Materialien eher einem Türvorleger als einem edlen Wanddekor. Der Wandel kam im 19. Jahrhundert und die floralen Muster auf den Teppichen blühten endlich auf, aber auch das zunächst nur an den Wänden aristokratischer Gemächer. Besonders begehrt waren türkische und persische Modelle, die aus dem fernen Osten importiert oder als großzügige Geschenke weitergegeben wurden. Nach dem Sturz des Zaren blieben die schönen Teppiche zwar im Land, welches unter der Abbreviatur UdSSR bekannt wurde, aber ihren inflationären Kultcharakter gewannen sie nur langsam. Die Teppiche wurden wieder zu praktischen Gebrauchsgegenständen und dienten der Wärme- und Schallisolierung, vor allem in den sog. Chruschtschowkas verortet, den Plattenbauten der 60er Jahren, die sehr kalte, dünne und hellhörige Wände hatten. Jede Familie, die nach monatelangem Sparmarathon einen Teppich ergattern konnte, durfte sich sehr glücklich schätzen, denn wie so ziemlich alles, waren auch die Hochflormonster rar. Meine Großmutter zum Beispiel stand über zehn Jahre auf der Warteliste für einen Teppich. So beschloss sie zwischenzeitlich diese selbst anzufertigen. Ganze neun Monate hat sie für ihren ersten gebraucht, so lange wie ein Kind im Bauch wächst. Auf den Boden kam der Teppich trotzdem nicht.

Schaut man weiter in der Weltgeschichte sich die Teppich-Bildnisse aus der Zaren-Epoche an zum Beispiel, dann staunt man auch auch nicht schlecht. Damals wurden nicht nur die Wände, sondern die ganzen Gemächer mit den Teppichen, oder genauer gesagt Gobelins ausgekleidet. Oben, unten, rechts und links, soweit das Auge reicht. Die lebendigen Belege hängen nach wie vor in den Palästen und Museen des heutigen Russlands als Beweis der Übermacht und des prunkvollen Lebensstils dieser Zeit.

1. Ilja Repin, Iwan der Schreckliche und sein Sohn Iwan am 16. November 1581, 1885

Aber ein Teppich konnte auch politisch sein. Nach der Union mit den zentralasiatischen Republiken um 1920-1930, wurden die politischen Machthaber als beliebtes Wanddekor-Motiv sichtbar gemacht. Ähnlich den unzähligen neu aufgestellten Propaganda-Skulpturen, Briefmarken und ikonenhaften Portraits von Lenin, Stalin und Co. wurden auch Marx und seine Gefolgschaft gerne in Wolle und Seide verarbeitet. Um die 1960er, mit der erfolgreichen Entdeckung der Raumfahrt, wurde die Macht über das Weltall ebenfalls auf handgeknüpften Unikaten anschaulich gemacht. Generell wurde der Größenwahnsinn des halben Planeten (sprich Russland) aufs Absurde in Szene gesetzt.

2. Der Führer der Weltrevolution, Wladimir Lenin, und der Führer des Ostens, Nəriman Nərimanov, Teppich, 1920 Das Staatliche Museum für Orientalische Kunst

Auffallend in dieser Periode der Geschichte ist die Selbstverständlichkeit der Verwebung von politischen, machtdemonstrierenden, parteitreuen Ideologien mit der uralten orientalischen Tradition der “exotischen” Teppichweberei. Hinzu kam, dass in den zentralasiatischen Republiken, wie Tajikistan, Turkmenistan, Kasachstan u.v.m. die Teppichkunst mitunter die Haupteinnahmequelle der Arbeiter:innenfamilien war und der Absatzmarkt in das zentrale Russland keine Frage der Freundschaft, vielmehr der Alternativlosigkeit war. Die eigene orientalisch geprägte Identität, muslimische Religion und Kultur wurde erst durch die christlich-orthodoxe, später atheistische und dann zum Teil durch den säkularen Herrschaftsstil verdrängt und hängt heute noch in einigen Teilen der ehemaligen UdSSR nach.

3. Ein Hochzeitsbankett in der Kolchose von Chalturin. Über dem Tisch steht „Willkommen“ auf turkmenisch. -1980

Nach der Perestrojka in den 90gern war es aber endgültig vorbei mit den reaktionären Gepflogenheiten und vor allem mit geschlossenen Supermärkten oder endlosen Schlangen vor den Kaufhäusern. Alles und für jeden wurde frei zugänglich gemacht. Jede Ware konnte mit mehr oder weniger Aufwand erbeutet werden. Zum Prestige-Objekt gehörte der Teppich jedenfalls nicht mehr. Im Gegenteil - man wurde eher belächelt, wenn man nicht gerade 90 Jahre alt war. Modern wurden abgehängte Decken, indirekte LED-Beleuchtung und Gardinen-Arrangements wie im Buckingham Palace. Das Ganze hatte sogar einen eigenen Namen bekommen - Ewroremont (übers. Euro-Renovierung). Damit erklären sich zumindest 3 Aspekte. Ein Teppich bezeugte eine zeitlang einen gewissen Wohlstand oder Machtverhältnis und schützte das Haus vor Wind und Wetter.

Aber manchmal kehren die Teppiche zurück...

Der Teppich aus der UdSSR hat schon lange sein Comeback erfahren und einen Vintage-Charakter hinzugefügt bekommen. Einige Filme mit Teppich als Hauptrolle haben unsere Wahrnehmung sicherlich auch beeinflusst. Aus den sowjetischen Filmen ist er gar nicht wegzudenken und der Vorleger aus The Big Lebowski dürfte auch jedem in Erinnerung geblieben sein. Einer von unzähligen Teppichen der schwedisch-norwegischen Textilkünstlerin und Antifaschistin - Hannah Ryggen, kam zuletzt in die Schlagzeilen, weil dieser bei dem grässlichen Terroranschlag in Oslo, beschädigt worden ist und letztens in der Schirn-Kunsthalle ausgestellt wurde. Solche Art-Objekt Teppiche würde normalerweise aber kein Mensch anfassen, geschweige auf den Boden legen wollen.

4. Hannah Ryggen, “Vi lever på en stjerne” (“We Are Living on a Star”), 1958

“Unser” Teppich hat mit Folklore, Kunst oder Wärmedämmung kaum mehr etwas gemeinsam.Wir verbinden das Wandgewand mit den warmen, fröhlich-rötlichen Farben, unendlichen Muster, der etwas kuscheligen Beschaffenheit, bisschen russich und bisschen orientalisch zugleich, mit “Zuhause”. Als Kinder lagen wir oft abends auf dem Bett und zeichneten die Muster mit den Augen so lange nach, bis uns die Lider schwer wurden. Heute beim Schreiben dieses Textes ergreift mich tiefe Verbundenheit mit dem Teppich meiner Großeltern, und es rührt mich wie ein Kind, wie ich die Familientradition nachzuempfinden versuche. i Deshalb denke ich: mit dem Meme-Schlager verhält es sich wahrscheinlich so ähnlich, wie mit jedem anderen Objekt der Nostalgie. Nur damals gab es statt Instagram und Co.- Fotoalben und Geschichten vom Opa. Absurde Bilder von Seiten wie lookatthisrussian stellen das Leben in Russland so dar: es laufen betrunkene Bären herum, es gibt ausschließlich Kartoffeln und Wodka zum Essen, jeder Tag ist eine Fete und arbeiten geht sowieso niemand. Alles selbstverständlich durch den Filter der 90er und Anfang 2000er gejagt. Okay, zugegeben, ich finde die Memes und die entsprechenden Foto-Blogs auch sehr lustig und teile sie fröhlich im Freundeskreis. Aber es bleibt nur eine Legende, wenn man selbst nicht in Russland aufgewachsen ist. Und ähnlich dem Familienalbum füttert jetzt die niemals abreißende insta-timeline unsere Gehirne mit etwas peinlichen und weit in der Vergangenheit liegenden Motiven.

Text: Anna Yakovleva

Bildangaben

  1. https://www.sueddeutsche.de/kultur/freiheit-der-kunst-in-russland-schuldig-1.3993090

  2. https://de.rbth.com/kultur/83670-orientteppiche-sowjetische-propaganda

  3. https://novastan.org/de/turkmenistan/das-sowjetische-turkmenistan-22/

  4. https://www.schirn.de/en/magazine/context/2019/hannah_ryggen/preview_hannah_ryggen_schirn_exhibition_tapestry/