Giulietta Ockenfuß, Almond Blossom (monoculture), 2021, Paint on steel, 80 x 60 cm, Foto: Ivan Murzin

Während die Welt im April 2020 den Atem anhielt, malte Giulietta Ockenfuß in einem sonnendurchfluteten Garten für die Ausstellung „OADE Volume I“ das Bild The greatest thing you‘ ll ever learn auf eine alte Holzwand. Ihr Gemälde zeigt eine menschliche Figur, die ihre Arme hinter dem Kopf verschränkt und wie auf Wasser gebettet über kulissenhaften Feldern und Siedlungen zu schweben scheint. Es ist eine utopische Gestalt aus grünen, blauen und gelben Farben, aus Lack und Kreide, deren Blick ins Nirgendwo geht, und die der Welt seltsam entrückt ist. Im Laufe des Jahres hat der Regen die Kreide langsam aus der Malerei heraus gewaschen und frischer Grünspan hat sich auf dem Holz abgesetzt. Noch kann man einen Menschen und eine Welt erkennen, aber irgendwann werden sie ganz verschwunden sein und dann bleiben nur noch die Erinnerungen und die Geschichten aus einer Zeit, die für uns alle die größte biografische und gesellschaftliche Zäsur markiert.
Giulietta Ockenfuß, The greatest thing you’ll ever learn, 2020, Paint an chalk on wood, 225 x 122 cm, Exhibition view “OADE Volume I”, 2020, Frankfurt a. M. Foto: Anton Sahler

The greatest thing you‘ ll ever learn ist zu einem flüchtigen Zeugnis eines historischen Moments geworden. Es ist Sinnbild einer Zeit, die niemand einfach vergessen wird und die doch unweigerlich in die Vergangenheit absinkt, zur Erinnerung verblasst und irgendwann nur noch in Geschichten existieren wird. Dieses stetige – mal offenkundige und radikale, aber viel häufiger im Verborgenen sich vollziehende – Wechselspiel der Zeiten, von Gegenwart und Erinnerung, von Bild und Bedeutung, dieses changieren zwischen Sein und Schein ist auch ein zentrales Motiv der Arbeit Unleash the Beast, die Giulietta bei „Koi_Pond“ zeigen wird. Für diesen Kunstfilm im Serienformat, den sie gemeinsam mit Catherina Cramer angefertigt hat, sind die Künstlerinnen nach Mexiko gereist und sind dort den Fragen von Herkunft, Identität und Transformation nachgegangen.

Ihr Film lebt von der Kombination fiktiver und dokumentarischer Elemente. Performative Dialoge, in denen fantastische Wesen mit bunten Masken über die Gründe für den aufrechten Gang des Menschen sprechen, wechseln sich mit Beobachtungen ab, die die beiden Regisseurinnen in Mexiko auf Märkten oder in den Werkstätten der Maskenbauern zeigen. Durch diese Gegenüberstellung von fiktivenProtagonist:innen und realen Personen, die themenbezogen und investigativ zu ihren Alltagserfahrungen befragt werden, lässt der Film die Betrachter:innen fortwährend in der Spannung, sich selbst zum Wahrheitsgehalt der Bilder zu verhalten.

Catherina Cramer und Giulietta Ockenfuß, Unleash the Beast, 2021 Video, 20:00 Min.

Catherina Cramer und Giulietta Ockenfuß, Unleash the Beast, 2021 Video, 20:00 Min.

Das übergreifende Thema zwischen dem auf mehrere Teile angelegten Film und den sich abwechselnden Erzählformen ist das Element Wasser. Der erste Teil, der Ende 2020 veröffentlicht wurde, begleitet eine Wasseräffin und wir hören ihr dabei zu, wie sie die Frage nach der Herkunft der Menschen aus der Natur beantwortet. Dabei geht es vordergründig um den aquatischen Charakter des Menschengeschlechts und die Rolle der Frauen beim Erlernen des aufrechten Gangs. Im Widerspruch zur häufig gehörten Meinung, dass der Mensch auf der Jagd den aufrechten Gang erlernt habe, verfolgen die beiden Künstlerinnen die Idee, dass der Gang auf zwei Beinen sich im Wasser entwickelt hat. Dabei behauptet der Film nicht einfach im Sinne der klassischen Evolutionstheorie, dass es eine objektive Antwort auf diese Frage gebe, sondern spinnt neue ästhetische Bezüge zwischen der Gegenwart und Vergangenheit. Sie machen es möglich, alte Rollenbilder abzuschütteln und neue Identitäten auszuloten.
Catherina Cramer und Giulietta Ockenfuß, Unleash the Beast, 2021 Video, 20:00 Min.

In teils grellen und punkigen, teils ruhigen, gar romantischen Bildern, werden Gegenwart und Vergangenheit, Realität und Fiktion miteinander verschränkt. Es ist ja keine ganz neue Erkenntnis, dass die Art, wie wir uns erinnern, mehr über die Gegenwart aussagt, als über die Vergangenheit. Ferner darf man annehmen, dass die alten Erzählungen über die Herkunft der Menschen einem patriarchalen und imperialen Denkmuster des 19. Jahrhunderts entstammten und es höchste Zeit ist für neue Rekurse auf den Anfang des menschlichen Daseins in der Natur. Wie diese aussehen könnten, verhandelt Unleash the Beast auf künstlerisch anspruchsvolle und zugleich unterhaltsame Art und Weise. Der Film übt mit den Mitteln der Kunst Kritik an herrschenden Ideologien und Narrativen, die vorschnell Objektivität behaupten und dabei das Potenzial und die zentrale Rolle der Fiktion bei der Gestaltung von Identität verkennen. Wie dieser Raum der Fiktion für die Gegenwart und im Rückblick auf die Geschichte ästhetisch genutzt werden kann, zeigt Unleash the Beast exemplarisch und erkundet dabei dringend notwendige und neue ästhetische Formen und Narrative für das 21. Jahrhundert.

Text: Leon Joskowitz

Der Katalog zu der Ausstellung kann via KVTV shop erworben werden.

Giulietta Ockenfuß, Brisa Marina, 2021, Paint on steel, 80 x 60 cm, Foto: Ivan Murzin

Catherina Cramer und Giulietta Ockenfuß, Exhibition view “Koi_Pond”, 2021, AtelierFrankfurt, Foto: Ivan Murzin

Catherina Cramer und Giulietta Ockenfuß, Exhibition view “Koi_Pond”, 2021, AtelierFrankfurt, Foto: Ivan Murzin

Catherina Cramer und Giulietta Ockenfuß, Exhibition view “Koi_Pond”, 2021, AtelierFrankfurt, Foto: Ivan Murzin

Catherina Cramer und Giulietta Ockenfuß, Exhibition view “Koi_Pond”, 2021, AtelierFrankfurt, Foto: Ivan Murzin